
Scheren, Schmiede, Blaumänner
„F.& W. Hendrichs – Scherenschlägerei u. Gesenkschmiede – Gegründet 1886“ – so steht es groß auf der markanten Eckfassade des LVR-Industriemuseums in Solingen. Das alte Fabrikensemble mit den Gebäuden aus roten Backsteinen, den typischen schrägen Sheddächern und den hohen Schornsteinen hat sich kaum verändert. Von 1886 bis 1986 wurden hier Scherenrohlinge geschmiedet. Alle Maschinen, die Fallhämmer, Pressen und Fräsmaschinen, alle Werkzeuge, auch die Werkbänke für die Werkzeugmacher sind noch komplett vorhanden. Selbst der Umkleideraum mit den alten Spinden, der Waschraum mit der langen Reihe drehbarer Waschschüsseln, das Maschinenhaus oder das Kontor mit der klappernden Schreibmaschine, alles ist noch da. Auch die Firmenvilla der Unternehmerfamilie steht noch immer an ihrem Platz.
Ein Museum in Arbeit
Unmittelbar nach dem Ende der Fabrikation 1986 wurde die ehemalige Gesenkschmiede Hendrichs Teil des LVR-Industriemuseums. Es ist ein ganz besonderes Museum, denn hier wird immer noch gearbeitet: Die Treibriemen surren, die Öfen glühen und der Hammer schlägt. Es herrscht eine ganz besondere Atmosphäre, die fasziniert und neugierig macht. Arbeiter im Blaumann stehen an den Fallhämmern und schmieden Scheren. In einem anderen Raum werden am Schraubstock die vielen Gesenkwerkzeuge für die Scherenformen bearbeitet. Die Weiterverarbeitung der Scheren – das Härten, das Schleifen und das Zusammensetzen – wird in ehemaligen, noch betriebsfähigen Heimarbeiter-Werkstätten gezeigt, die in die Ausstellung integriert wurden. Weitere Abteilungen veranschaulichen die Mechanisierung des Schleifens und erläutern das Leben und die Arbeit der Menschen in der Schneidwarenproduktion.
Die herrschaftliche Firmenvilla von 1896 bietet den Besucherinnen und Besuchern darüber hinaus Einblicke in die bürgerliche Lebenswelt der Fabrikantenfamilie. Hier befindet sich auch das Museumscafé mit Wintergarten. Im Sommer lädt die schöne Gartenanlage mit dem alten Baumbestand zum Verweilen ein.
Gestern und heute
Im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts erlangte die Solinger Schneidwarenindustrie eine führende Position auf dem Weltmarkt. Das Erfolgsgeheimnis lag in der flexiblen Arbeitsteilung zwischen industriell arbeitenden Gesenkschmieden und hochspezialisierten und qualifizierten Handwerkern und Heimarbeitern, die in kleinen Werkstätten selbstständig arbeiteten. In dieser Zeit gründeten die Brüder Hendrichs die Gesenkschmiede in Solingen-Merscheid.
Auch heute noch spielt die Schneidwarenindustrie in Solingen eine wichtige Rolle, aber die Anzahl der Betriebe hat sich deutlich verringert. Hundert Jahre nach ihrer Gründung im Jahre 1886 schlossen sich auch die Pforten der Firma Hendrichs. Doch nur wenige Wochen später öffneten sich die Fabriktore erneut. Die ehemaligen Mitarbeiter der Firma Hendrichs demonstrierten von da an im Museumsbetrieb die Herstellung von Scherenrohlingen. Im November 1986 öffnete das LVR-Industriemuseum zunächst Teilbereiche der alten Fabrik zur Besichtigung. 1999 erfolgte dann die komplette Neueröffnung nach einfühlsamer Restaurierung und dem Einbringen moderner Ausstellungstechnik.
Unterhaltsame und erlebnisreiche Programmvielfalt
Mehr als 3500 Quadratmeter Ausstellungsfläche warten in Solingen darauf, entdeckt zu werden. Ausgearbeitete Rundgänge bieten einen Einblick in die Themenbereiche des Museums. Wer mag, kann sich anhand von verschiedenen Schwerpunkten durch das Museum leiten lassen. Darüber hinaus begleitet ein umfangreiches Rahmenprogramm die Angebote des Museums. Neben Sonntagsführungen, abendlichen Themenführungen oder Kinderführungen erfreuen sich industriegeschichtliche Exkursionen und Betriebsbesichtigungen großer Beliebtheit. Vorträge, Lesungen oder Diskussionsveranstaltungen stehen ebenfalls auf dem Programm.
Die Konzertreihe „Jazz in der Schmiede“ oder auch das jährliche Museumsfest bilden Highlights im Veranstaltungskalender. Im Herbst jedes Jahres findet der MesserGabelScherenMarkt statt. Mehr als 20 Solinger Firmen präsentieren hier Schneidwaren für jeden Geschmack und jeden Bedarf – und dies in allerbester Qualität. Unter dem Titel „Sonndags en der Schmette“ lädt der Förderverein drei- bis viermal im Jahr zu Gesprächen und Vorträgen in lockererer Atmosphäre ein. Zum regelmäßigen Angebot gehört außerdem ein Schleifservice: Dienstags und donnerstags ist die Schleiferei besetzt und die Besucherinnen und Besucher können ihre abgenutzten Scheren oder Messer zu günstigen Preisen wieder aufarbeiten lassen.
Auch die Kooperationsveranstaltungen mit dem Humboldt-Gymnasium, Partnerschule des Museums, sind immer wieder Publikumsmagneten. Das Museum bietet allen Schulen vielseitige nach Jahrgangsstufen und Schulformen differenzierte museumspädagogische Angebote. Das museumspädagogische Programm wird durch spezielle Angebote für Kinder ergänzt, besonders in den Ferien.
Weitere Plätze der Industriegeschichte in Solingen
Das thematische Angebot der Dauerausstellung in der ehemaligen Gesenkschmiede Hendrichs wird ergänzt durch ein Netzwerk von industriegeschichtlichen Anlaufstellen, die das LVR-Industriemuseum mit Hilfe verschiedener Partner aufbauen konnte: In einem original erhaltenen Wasserkotten, der Schleiferei Wipperkotten, lernen Besucherinnen und Besucher die Arbeit der Schleifer kennen. Die Loosen Maschinn ist eine ehemalige Dampfschleiferei, in der einst mehr als 200 Schleifer mit Dampfkraft geschliffen haben. In der Taschenmesserreiderei Lauterjung erlebt man eine original erhaltene Werkstatt der Solinger Heimindustrie. Im Lieferkontor der Fa. Herder erinnern die originale Ausstattung und eine Ausstellung an die schwere Arbeit der Lieferfrauen. Im alten Waschhaus Weegerhof entdecken Besucherinnen und Besucher ein Kleinod der Solinger Industriekultur – eine Genossenschaftswäscherei mit einer Ausstellung zur Geschichte des Waschens.
Sieben Schauplätze, ein Museum
Die Gesenkschmiede Hendrichs ist einer von insgesamt sieben Schauplätzen des LVR-Industriemuseums, die im Verbund ein einzigartiges Museums bilden. In zum Teil denkmalgeschützten Fabriken wird am authentischen Ort spannend und anschaulich die Geschichte der Industrie im Rheinland und der dort beschäftigten Menschen erzählt. Dabei stehen die zentralen Branchen Metall, Textil, Papier und Elektrizität im Mittelpunkt. Neben der ehemaligen Gesenkschmiede Hendrichs warten auch die anderen Schauplätze darauf, entdeckt zu werden: die Papiermühle Alte Dombach in Bergisch Gladbach, das Kraftwerk Ermen & Engels in Engelskirchen, die Tuchfabrik Müller in Euskirchen, die Textilfabrik Cromford in Ratingen und die Zinkfabrik Altenberg mit dem Peter-Behrens-Bau, sowie die St. Antony-Hütte und das Museum Eisenheim in Oberhausen. Hier befindet sich außerdem die Museumszentrale mit Direktion, Verwaltung, Depots, Bibliothek, Fotoarchiv und Werkstätten. Gründer und Träger des LVR-Industriemuseums ist der Landschaftsverband Rheinland (LVR).