Von Christoph Ledder:
Raphaelius Alva Grusser scheint aus der Zeit gefallen zu sein. Sein markanter Hut mit der großen Schweißerbrille und sein weites, weißes Hemd erinnern stark an einen Eigenbrödler aus dem Viktorianischen Zeitalter oder an eine Romanfigur von Jules Verne, dem ersten Science-Fiction-Autor.
Diese Eindrücke werden durch seine um ihn herum stehen eigenkreierten Maschinen verstärkt, die allesamt dampfen und zischen. Ob Dampfkusche, Dampf- oder Luftschiff – die Maschinen Grussers sind auf ihre Art einzigartig und sind Ausdruck einer regen Fantasie, viel handwerklichem Geschick sowie einer hingebungsvollen Liebe zum Detail.
“Mir kam die Idee eine Achterbahn zu bauen, die in Zeitlupe fährt”
Raphaelius Alva Grusser, der mit bürgerlichem Namen Raphael Grässer heißt, aus Deutschland stammt und in der Schweiz lebt, sieht sich als Erfinder und eifrigen Bastler, der keine Langeweile kennt und unentwegt an neuen Projekten arbeitet.
“Obwohl ich oft faul bin, habe ich ständig neue Ideen im Kopf, die ich realisieren möchte. Und dann ist es mit der Faulheit auch schon vorbei”, sagt Grässer. Dabei stammen seine Inspirationen oft aus dem Alltag. „Vor kurzem bin ich zum ersten Mal in meinem Leben Achterbahn gefahren. Nach diesem kurzen und intensiven Erlebnis kam mir die Idee, eine Modell-Achterbahn zu bauen, die in Zeitlupe fährt.“
Dampfkutsche “Smoking Leyla”
Obwohl die Achterbahn derzeit noch in der Planung ist, kann Grässer mittlerweile viele Erfindungen vorweisen, die er auf Festivals gekonnt in Szene setzt. Ein Beispiel dafür ist seine Dampfkutsche “Smoking Leyla”. Diese besteht aus einem rund 5 Liter fassenden Kessel, der es nach einer Anheiztemperatur von rund 45 Minuten auf etwa 6 Bar Dampfruck und rund 140 Grad Kesseltemperatur bringt.
Automatisch öffnen sich zwei Sicherheitsventile, damit der überschüssige Druck entweichen kann. Das Kohlefeuer kann man mit einem Dampf-Bläser anfachen, um es im wahrsten Sinne des Wortes zur Weißglut zu bringen.
Eine oszillierende 2-Zylinder Dampfmaschine ermöglicht einen sanften Anlauf aus dem Stand. Mittels eines stufenlosen Fahrrad-Nabengetriebes kann nach dem Anfahren “hochgeschaltet” werden, damit das Gefährt mehr Geschwindigkeit aufnimmt und die Drehzahl der Dampfmaschine nicht zu hoch wird. Die Lenkung erfolgt über eine kleine Kurbel, die mit Drahtseilen an der Vorderradgabel befestigt sind.
“Auf manchen Festivals stehen Kinder mit weit aufgerissenen Augen dar und vergessen, was um sie rum passiert”
Das I-Tüpfelchen der “Smoking Leyla” sind ihre drei Hupen. Grässer hat es sich nicht nehmen lassen, dafür zwei Kirchenorgeln, eine kleine, schrille und laute Dampfpfeife sowie eine Glocke zu verwenden. Die Kutsche ist somit weder zu überhören noch zu übersehen. “Auf manchen Festivals stehen Kinder mit weit aufgerissenen Augen dar und vergessen, was um sie rum passiert”, erzählt er.
Das Dampfschiff “Fauchender Claudius”
Ein wahrer Blickfang ist auch sein selbstgebauter Schaufelrad-Katamaran “Fauchender Claudius”. Auf diesem Katamaran aus Holz können zwei Personen bequem sitzen. Betrieben wird das Dampfschiff mit einem Dampfkessel, der mit einer Gasflamme erhitzt wird. Sobald 4,5 Bar Dampfdruck erreicht sind, setzt sich der Katamaran in Bewegung. Mit dem steuerbaren Doppelruder wird Kurs gehalten und das Schaufelrad sorgt für den Vortrieb. Ein großes Fass, ein Steuerrad, ein Kompass sowie Tau und Anker dürfen natürlich nicht fehlen und sind deshalb mit an Bord.
Dampflokomotive als lebendiges Museum
„Dampf und Dampfmaschinen sind ein Spektakel. Feuer und Wasser sind gegensätzliche Elemente, die aber dennoch viel bewegen und ausrichten können“, so Grässer. An den Dampferfindungen freut es ihn, dass man alles sieht. „Die Dampflokomotive ist im gewissen Sinn ein lebendiges Museum, in dem junge und alte Menschen eine ganze Menge lernen können.“
“Dampf und Dampfmaschinen sind ein Spektakel”
Der Lernprozess dauert bei Grässer fortwährend an. Obwohl er handwerklich begabt ist – im wahren Berufsleben arbeitet er in einer Maschinenfabrik – und seine Erfindungen durchdacht sind, kommt er manchmal an einen Punkt, an dem er nicht weiterkommt.
“Ich frage dann entweder Freunde und Bekannte um Rat oder überlege mir Umwege, wie ich zum gewünschten Ziel komme.” In vielen Fällen greift bei ihm das sogenannte “Try-and-Error-Prinzip”. Ausprobieren hatte schon immer die oberste Priorität in Grässers Leben. Die für seine Maschinen notwendigen Materialien besorgt er sich unter anderem auf Flohmärkten.
“Im Alter von 10 Jahren fing es bei mir mit dem Modellbau und ferngesteuerten Autos an. Reparieren, tüfteln und ausprobieren standen an erster Stelle.” Ohne die Leidenschaft für Dampf und Technik wäre Raphael Grässer heute ein anderer. Doch es gibt noch ein weiteres Detail, das unmittelbar mit ihm verknüpft ist.
Grässer ist Steampunk
Er ist Steampunk und das bereits seit vielen Jahren. Die eine konkrete Antwort, was denn ein Steampunk sei, kann er nicht geben. „Frag‘ eine Gruppe von 10 Steampunkern und Du erhälst 15 verschiedene Antworten.“ Doch eines eint die Steampunk-Subkultur: jede Menge Fantasie und Erfindergeist sowie einen Hang zur Nostalgie.
„Es geht mir darum, Träume in die Realität umzusetzen. Jedes Projekt, das ich entwickle, ist ein Traum von mir. Ich denke auch, dass ich in diesem Punkt für viele Steampunker sprechen kann“, sagt Raphael Grässer. Träume sollen wahr werden. Das gehört zur Ideologie des Steampunk. Übrigens ist Raphaelius Alva Grusser sein Steampunk-Name, unter dem er auch auf Festivals auftritt und seine Erfindungen präsentiert.
“Es geht mir darum, Träume in die Realität umzusetzen.”
Und obwohl er sich kleidet, wie zu Zeiten des 19. Jahrhunderts und Dinge aus der Zeit adaptiert und in die Gegenwart versetzt, ist er froh nicht in dieser Zeit zu leben. “Neben den ganzen spektakulären Erfindungen, gab es in der damaligen Zeit viele schlimme gesellschaftliche Ereignisse, die sich nicht wiederholen sollten. Man kann froh sein, heute mit den gesamten Annehmlichkeiten zu leben.”
Rebellion gegen schnelllebige Zeit
Dennoch ist Steampunk für Grässer Rebellion. “Mit meinen Maschinen möchte ich auch ein Stück weit ein Zeichen gegen die Schnelllebigkeit unserer Zeit setzen und zeigen, was Entschleunigung ist.” Die Zeit ein wenig anhalten oder bremsen. Das sei etwas, wofür Steampunk stehe.
Eine Person, auf die sich viele Steampunks, Bastler und Erfinder wie Grässer berufen ist der Schriftsteller Jules Verne. Sein bekanntestes Buch “Die Reise zum Mittelpunkt der Erde” regt noch heute die Fantasie vieler Leser an. “Jules Vernes Geschichten haben oft eine inspirierende Wirkung auf mich.” Sowohl Grässer selbst als auch seine Maschinen könnten einem Jules-Verne-Roman entsprungen sein. “Die Romane von Verne Wirklichkeit werden lassen. Das ist meine Intention bei der Entwicklung der Maschinen.”
Den Spagat zwischen Fiktion und Wirklichkeit bekommt er bestens hin. Auch wenn er ein Nostalgiker ist, lebt er nicht im Gestern. “Ich finde es wichtig, dass wir die Errungenschaft und Kultur nicht vergessen. Wie wäre es, mal wieder Briefe zu schreiben?” Ein Smartphone hat er beispielsweise bis heute nicht, lediglich ein normales Handy. Entschleunigung kann funktionieren.
Wer mehr über Raphaelius Alva Grusser erfahren möchte, kann sich auf seiner Website umschauen.
Fotos: Andreas Ebener / Andreas Ronge / Christopher Cocks / Clara Lina Wirz / Daniela Vemmer / Linda Kastrati / raphaelius.com
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